Offener Brief zur Europarechtskonformität von Modellprojekten zu Cannabis in Bayern

26. April 2023

Sehr geehrter Herr Staatsminister Holetschek,

in den vergangenen Wochen haben Sie sich mehrfach öffentlich zur vermeintlichen Völker- und Europarechtswidrigkeit der von der Bundesregierung geplanten Modellvorhaben zur Cannabislegalisierung geäußert. Zuletzt haben Sie die bayerischen Kommunen in einer am 23. April veröffentlichten Pressemitteilung ausdrücklich davor gewarnt, sich als Modellregionen zu bewerben. Diese „Warnung“ veranlasst uns als stellvertretende rechtspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion und zuständige Berichterstatterin sowie bayerische kommunale Mandatsträger*innen dazu, uns direkt an Sie zu wenden und Sie über die Rechtmäßigkeit der wissenschaftlich begleiteten Modellvorhaben aufzuklären.

Ihre These, dass die geplanten Modellvorhaben gegen Europarecht verstoßen, weil sie auf die Etablierung einer Praxis abzielen, die nach EU- und Völkerrecht verboten ist, ist nicht haltbar. Ihre rechtlichen Bedenken sind unbegründet. Es besteht damit kein Anlass für eine Warnung der bayerischen Kommunen.

Sicherlich ist Ihnen bekannt, dass sowohl die UN-Suchtstoffübereinkommen als auch das Europarecht Ausnahmen vom grundsätzlichen Verbot von Cannabis vorsehen.

Eine umfassende Ausnahme sehen die europa- und völkerrechtlichen Vorschriften für medizinische und wissenschaftliche Zwecke vor. Verhaltensweisen, die mit einem solchen Zweck im Zusammenhang stehen, sind vom Anwendungsbereich des Drogenverbotsregimes explizit ausgenommen. Entsprechend hat der Europäische Gerichtshof in seiner Entscheidung Josemans (EuGH, Entscheidung vom 16.12.2010 – Rs. C-137/09) bereits bestätigt, dass das Inverkehrbringen und die Verwendung von Cannabis zu medizinischen und wissenschaftlichen Zwecken nach dem Europa- und Völkerrecht zulässig sind. Die von der Bundesregierung geplanten regionalen Modellvorhaben verfolgen ebensolche wissenschaftlichen Zwecke, indem sie die Auswirkungen einer kommerziellen Lieferkette auf den Gesundheits- und Jugendschutz sowie den Schwarzmarkt wissenschaftlich genauer untersuchen und eine spätere Evaluation ermöglichen.

Ein staatlich lizensierter Anbau und Handel von Cannabis zum Freizeitkonsum in einzelnen Modellregionen verstößt weder gegen den Rahmenbeschluss 2004/757/JI, noch gegen sonstige europarechtliche Vorschriften.

Art. 2 des Rahmenbeschlusses 2004/757/JI sieht zwei Ausnahmen vom Drogenverbotsregime vor. Nach Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses sind solche Verhaltensweisen nicht erfasst, die ausschließlich dem persönlichen Konsum – definiert durch das jeweilige nationale Recht – dienen. Die zweite, im Hinblick auf die Modellvorhaben relevantere Aussage enthält Art. 2 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses. Demnach fallen ausdrücklich nur solche Handlungsweisen unter das EU-Verbotsregime, die „ohne entsprechende Berechtigung“ vorgenommen werden. Wann eine entsprechende Berechtigung vorliegt, bestimmt wiederum das nationale Recht. Damit obliegt es allein dem bundesdeutschen Gesetzgeber, die Verbotsvorschrift des Art. 2 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses unter Berücksichtigung der Vorgaben und Ziele der internationalen Verträge zu konkretisieren. In diesem Zusammenhang ist zu unterstreichen, dass der Europäische Gerichtshof in seiner Rechtsprechung bisher keine Aussage dazu getroffen hat, wie er den Passus „ohne entsprechende Berechtigung“ interpretiert. Außerdem hat er bisher weder Stellung zu der Frage bezogen, wann eine nationale Drogenpolitik im Widerspruch zum Europarecht steht, noch in welchem Umfang die internationalen Übereinkommen die einzelnen Mitgliedsstaaten hinsichtlich Cannabis verpflichten. Art. 2 Abs. 1 steht damit – unter Zugrundelegung der Auslegungsmethodik des Europäischen Gerichtshofes (Wortlaut, Zusammenhang sowie Sinn und Zweck einer Vorschrift unter besonderer Berücksichtigung des Primärrechts) – dem Vorhaben einzelner Mitgliedsstaaten, in einzelnen Modellregionen ein nationales Lizensierungssystem zur Legalisierung von Cannabis zum Freizeitkonsum zu errichten, nicht entgegen. Eine entsprechende staatliche Lizensierung stellt dann wiederum eine „Berechtigung“ der Handelnden i.S.d. Art. 2 Abs. 1 dar, sodass ein europarechtswidriges Handeln nicht vorliegt.

Die Legalisierung von Cannabis zum Freizeitkonsum nach den Plänen der Ampel-Koalition steht zudem im Einklang mit dem Sinn und Zweck des Rahmenbeschlusses 2004/757/JI und auch des Schengener Durchführungsübereinkommens. Denn sie zielt gerade darauf ab, einen besseren Gesundheitsschutz zu gewährleisten und den illegalen Drogenhandel wirksam zu bekämpfen. Zudem wird bei der Durchführung der wissenschaftlich begleiteten Modellvorhaben gewährleistet werden, dass grenzüberschreitende Auswirkungen auf andere Mitgliedsstaaten ausgeschlossen sind und die (Straf-)Gesetzgebung im Einklang mit den aus dem EU-Recht folgenden Harmonisierungsverpflichtungen steht. Den Mitgliedsstaaten verbleibt daher ein Handlungsspielraum für wissenschaftlich begleitete, regionale Modellprojekte.

Auch der von Ihnen proklamierte Verstoß gegen das Völkerrecht liegt nicht vor. Art. 36 Abs. 1 und 2 des Einheits-Übereinkommens von 1961 und insbesondere Art. 3 Abs. 2 des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen den unerlaubten Verkehr mit Suchtstoffen und psychotropen Stoffen von 1988 enthalten Verfassungsvorbehalte, die den Vertragsstaaten eine liberalere Drogenpolitik zur Wahrung der in ihren Verfassungen geschützten nationalen Rechte gestatten. Konsequenterweise gestatten diese verfassungsrechtlichen Restriktionen des völkerrechtlichen Verbotsregimes implizit auch die Durchführung von Modellvorhaben, die es den Vertragsstaaten ermöglichen, die Umsetzung des regulierten persönlichen Konsums im Einklang mit ihren jeweiligen Verfassungsgrundsätzen zu erproben. Die von der Bundesregierung geplante Legalisierung in einem engen staatlich kontrollierten Rahmen unter Verbesserung der Standards beim Gesundheitsschutz sowie der Bekämpfung nationaler und internationaler Drogenkriminalität steht im Übrigen im Einklang mit dem Sinn und Zweck und den rechtlichen Vorgaben der VN-Übereinkommen. Denn sie ist zur Erreichung der Ziele des VNDrogenverbotsregimes – besserer Gesundheitsschutz und Bekämpfung des illegalen Drogenhandels – besser geeignet als die bisherige, restriktive Verbotspolitik.

Auch die damalige Bundesregierung ist ausweislich ihrer anlässlich der Ratifikation des VN-Übereinkommens von 1988 abgegebenen Erklärung (BGBl 1994 II – Nr. 17 vom 27.4.1994, S. 496) davon ausgegangen, dass das Übereinkommen einer liberaleren Drogenpolitik, z.B. einer späteren Entkriminalisierung, nicht entgegensteht.

Abschließend möchten wir Sie auf die derzeit in den Niederlanden laufenden regionalen Modellvorhaben zur Legalisierung von Cannabis zum Freizeitkonsum hinweisen. Diese hat die niederländische Regierung mangels zu befürchtender Europarechtswidrigkeit nicht als notifizierungspflichtig eingestuft. Und auch die EU-Kommission scheint offenbar keine rechtlichen Bedenken hinsichtlich der Modellvorhaben zu haben, denn sie hat sie nicht beanstandet. Es besteht daher kein Anlass, die bayerischen Kommunen vor einer Teilnahme an den geplanten Modellvorhaben zu „warnen“.

Wir hoffen, wir konnten Ihnen durch unsere Ausführungen verdeutlichen, dass Sie mit Ihrer Rechtsauffassung zur Völker- und Europarechtswidrigkeit falsch liegen. Bei Bedarf sind wir gerne bereit, mit Ihnen in einen direkten, konstruktiven Austausch zu diesem Thema zu treten und Ihnen die rechtlichen Argumente weiter zu erläutern.

Hochachtungsvoll

Carmen Wegge
Mitglied des Deutschen Bundestages
stv. rechtspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion

Lena Odell
Stadträtin
Landeshauptstadt München

Anja König
Vorsitzende
SPD-Stadtratsfraktion Landshut

Claudia Arabackyj
Stv. Vorsitzende
SPD-Stadtratsfraktion Nürnberg

Peter Stranninger
Stv. Vorsitzender
SPD-Stadtratsfraktion Straubing

Alexander Irmisch
Stadtrat
Stadt Regensburg

Anna Rasehorn
Stadträtin
Stadt Augsburg

Daniel Liebetruth
Vorsitzender
SPD-Stadtratsfraktion Germering

Munib Agha
Stadtrat
Stadt Erlangen

Magdalena Reiß
Stadträtin
Stadt Schwabach

Teilen